Am 18. Mai hat die US-Zentralbank (Fed) ihr jüngstes Sitzungsprotokoll veröffentlicht. Die darin enthaltende Botschaft lautet: Ein Zinsschritt im Juni, wenn der Fed-Offenmarktausschuss das nächste Mal tagt, ist als recht wahrscheinlich einzustufen.
Bislang haben wir die Zinspolitik der Fed mit dem Theaterstück von Samuel B. Beckett (1906 – 1989) „Warten auf Godot“ verglichen: Auf den Finanzmärkten wird die Erwartung steigender Zinsen wachgehalten. Aber die Zinserhöhungen bleiben letztlich doch aus: Die Fed kündigt Zinserhöhungen zwar immer wieder an, aber wenn der Tag der Zinsentscheidung näher rückt, wird die Zinserhöhung immer wieder in die Zukunft vertagt.
Nun aber ist es an der Zeit, die Einschätzung zu ändern. Und zwar aus folgenden Gründen:
(1) Die Serie der jüngsten US-Konjunkturdaten (vor allem die Arbeitsmarktdaten) lässt eine weitere Zinserhöhung als angemessen erscheinen;
(2) die Ölpreiserholung dürfte die Konsumentenpreisinflation weiter ansteigen lassen (sie hat ihren jüngsten Tiefpunkt, den sie im April 2014 erreicht hat, bereits verlassen) – und dass setzt die Fed unter Handlungsdruck; und
(3) die US-Banken- und Finanzindustrie scheint derart niedrige Zinsen nicht (länger) zu mögen, denn sie schädigen das Kredit- und Vermögensanlagegeschäft.
Vor diesem Hintergrund erscheint eine Zinserhöhung am 15. Juni um 0,25 Prozentpunkte auf dann 0,75 Prozent wahrscheinlich.
Die Möglichkeiten, sie wieder einmal zu vertagen, sind geschwunden. (Die Volksbefragung in Großbritannien zum „Brexit“, die möglicherweise Finanzmarktturbulenzen verursachen könnte, erfolgt erst am 23. Juni.)
Ausblick für die Edelmetallpreise
Die Marktreaktion, die auf die Veröffentlichung des Sitzungsprotokolls am gestrigen Tage folgte, war deutlich.
Der US-Dollar-Außenwert wertete stark auf gegenüber allen wichtigen Währungen; der Aktienmarkt gab nach, die Gold- und Silberpreise in US-Dollar gerechnet fielen merklich. (Steigende Zinsen erhöhen bekanntlich die Kosten der Edelmetallhaltung und üben dadurch einen Abwärtsdruck auf die Preise aus).
Wenngleich es auch zu einer US-Zinserhöhung im kommenden Monat kommen könnte, so dürfte das jedoch den mittel- bis langfristigen Preisauftrieb der Edelmetallpreise nicht entgegenstehen.
Denn die US-Zentralbank wird ihren Zins nicht auf „normale Niveaus“ zurückführen können und wollen. Dazu sind die Schuldenlasten in den USA, aber auch in anderen Regionen der Welt, bereits zu groß.
Kurzfristige Rückschläge bei den Edelmetallpreisen sind daher aus unserer Sicht für Anleger eine Kaufgelegenheit. Vor allem für Anleger aus dem Euroraum. Denn der Euro dürfte bei einer weiteren US-Zinserhöhung wieder auf seinen Abwertungskurs gegenüber dem US-Dollar einschwenken.
Mit freundlichen Grüßen
Thorsten Polleit
Chefvolkswirt der Degussa
thorsten.polleit@degussa-goldhandel.de