Die Menschen spüren es: Null- oder gar Negativzinsen verheißen nichts Gutes, sie sind „unnatürlich“. Eine ihrer Konsequenzen ist allen sofort einsichtig: Bei einem Nullzins lohnt sich das Sparen nicht mehr, bei einem Negativzins wird es zum Verlustgeschäft. Dramatisch ist das für alle, die ihre Altersvorsorge auf Zinseinkommen aufgebaut haben. Ihnen drohen Versorgungslücken, vielfach sogar Altersarmut.
Für Unternehmen bedeutet das Wegschrumpfen des Zinses zum Beispiel, dass die Barwerte ihrer Pensionsverbindlichkeiten ansteigen: Künftige Pensionsverpflichtungen sind jetzt mit einem immer niedrigeren Zins abzuzinsen. Das wiederum schmälert das Eigenkapital. Die Kreditqualität der Unternehmen verschlechtert sich. Ihre Kapitalkosten steigen an – mit negativen Folgen für Investitionen und Beschäftigung.
Auf den Finanzmärkten richten die Null- beziehungsweise Negativzinsen ein Informationschaos an. Die Preise für Aktien, Anleihen und Derivate blähen sich auf. Die verzerrten Preissignale verleiten die Marktakteure zu fehlerhaften Entscheidungen – beispielsweise im Schuldpapiermarkt, wo Anleger de facto überschuldeten Staaten und Banken weiterhin Geld leihen, ohne dafür entsprechend kompensiert zu werden.
Die Produktions- und Beschäftigungsstruktur der Volkswirtschaft wird verzerrt. Der Güteroutput wird nicht mehr an den dringendsten Wünschen der Nachfrager ausgerichtet. Fehlinvestitionen, Kapitalverschwendung stellen sich ein. Die Volkswirtschaft gerät geradezu in einen Blindflug. Das Wirtschaftsgebäude, errichtet mit extrem niedrigen oder gar negativen Zinsen, ist instabil, bekommt früher oder später Risse und wird einstürzen.
Was man über den Zins wissen sollte
Die niedrigen Zinsen sind kein „natürliches“ Ereignis. Sie sind das Ergebnis gezielter Zentralbankpolitik. Beispielsweise hat die Europäische Zentralbank (EZB) den Zins für die Überschussguthaben, die Banken bei der EZB halten, auf -0,4 Prozent gesenkt. Um dem Strafzins zu entkommen, kaufen Banken nun Staatsanleihen. Das bläht deren Kurse auf und zieht ihre Rendite auf und zuweilen sogar unter die Nulllinie.
Zudem kauft die EZB Schuldpapiere im Kapitalmarkt. Vor allem auch dadurch werden die Kurse der Schuldpapiere in die Höhe getrieben und deren Verzinsung herabgedrückt. Die EZB beschränkt sich bei ihren Käufen mittlerweile nicht mehr auf Staatsanleihen. Auch verbriefte Bankkredite in Form von „Asset Backed Securities“ (ABS) und Unternehmensanleihen erwirbt sie und gibt dafür neu geschaffene Euros aus.
Banken erhalten bald Kredite von der EZB, die mit einem Negativzins ausgestattet sind: Die Geldhäuser verdienen, wenn sie sich bei der EZB verschulden. Sie erhalten damit einen Anreiz, insbesondere Staatsanleihen zu kaufen. Das verstärkt den Zinsabwärtssog in den Märkten. Kaufen Banken mit dem neu erhaltenen Geld Wertpapiere im Ausland, gerät zudem auch noch der Euro-Außenwert unter Abwertungsdruck.
Wie problematisch das Herunterdrücken des Zinses ist, wird deutlich, wenn man sich das Wesen des Zinses vor Augen führt. Der Marktzinssatz ergibt sich aus Angebot von und Nachfrage nach Ersparnissen. Er hat verschiedene Komponenten: die Inflations-prämie, die Kreditausfallprämie und vor allem den „natürlichen Zins“. Der Marktzins kann auf null Prozent oder auch darunter fallen, der natürliche Zins aber nicht.
Ein ökonomischer Albtraum
Der natürliche Zins ist immer und überall positiv. Er lässt sich aus dem menschlichen Handeln nicht wegdenken. Seine Existenz kommt darin zum Ausdruck, dass der Handelnde gegenwärtige Güter höher wertet als zukünftige Güter. Der natürliche Zins ist Ausdruck einer Wertdifferenz: Künftige Güter erleiden – und zwar notwendigerweise – einen Wertabschlag gegenüber gegenwärtigen Gütern.
Der natürliche Zins kann nicht auf null oder darunter fallen. Wäre er null, dann hieße das, dass man nicht mehr konsumieren, sondern nur noch sparen würde. Nicht nur heute, auch morgen und übermorgen und für alle Zeit. Eine völlig irrige Vorstellung. Ganz zu schweigen von der Vorstellung, der natürliche Zins könnte negativ werden; was das ökonomisch bedeuten soll, lässt sich vom menschlichen Geist nicht einmal erfassen.
Jetzt, wo die Zentralbanken die Marktzinsen heruntermanipuliert haben, versuchen Sparer den Folgen zu entkommen. Sie fragen zum Beispiel risikoreichere Schuldpapiere nach wie zum Beispiel Unternehmensanleihen. Auch Aktien und Immobilien stehen auf der Einkaufsliste. Die steigende Nachfrage nach diesen Gütern treibt deren Preise in die Höhe. Die Folgen der Null- und Negativzinspolitik breiten sich auf alle Finanzmärkte aus.
Es ist absehbar, was dabei passieren wird: Die Preise aller Vermögensbestände steigen so weit an, bis sich keine positive Verzinsung mehr erzielen lässt, bis es nirgendwo mehr eine positive Rendite gibt. Beispielsweise erreichen die Aktienkurse irgendwann ein Niveau, das keine positive Rendite mehr in Aussicht stellt. Die Kurse können sogar so weit steigen, dass fortan mit negativer Verzinsung zu rechnen ist.
Die Aussicht Null- oder gar Negativverzinsung markiert einen kritischen Punkt: Die Marktwirtschaft – oder das, was von ihr heute noch übrig ist – ist im wahrsten Sinne des Wortes am Ende. Ohne die Möglichkeit, einen positiven Zins verdienen zu können, kommt die arbeitsteilige Wirtschaft zum Erliegen. Das kapitalistische Sparen und Investieren hört auf.
In einer Welt, in der es keinen positiven Zins mehr zu verdienen gibt, stellt sich Kapital-verzehr ein. Buchstäblich alles, was noch in den Regalen liegt, wird aufgezehrt und nicht mehr neu produziert. Es gibt keine Ersatz- und Neuinvestitionen mehr. Die Volkswirtschaft fällt in eine primitive Subsistenzwirtschaft zurück. Eine Welt ohne Zins ist eine Dystopie.
Was auf den ersten Blick als „konjunkturstützende“ Wirkung der Null- beziehungsweise Negativzinsen erscheinen mag, ist in Wahrheit also eine verheerende Politik. Die Null- und Negativzinspolitik der Zentralbanken baut nicht auf, sondern sie zerstört. Sie mag zwar kurzfristig das Wirtschaftsgeschehen stützen. Aber sie übertüncht damit lediglich den Kapitalverzehr, der die Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft untergräbt.
Der Geldsozialismus ist quasi perfekt
Hat eine Null- beziehungsweise Negativzinspolitik die Vermögenspreise erst einmal so stark in die Höhe getrieben, dass fortan mit Preisrückgängen zu rechnen ist, wird die „Re-Inflationspolitik“ attraktiv. Ein Rückgang der Preise würde nämlich das ungedeckte Papiergeldsystem in schweres Fahrwasser bringen. Es käme zu Zahlungsausfällen von Konsumenten, Unternehmen, Banken und Staaten.
In der Not der Stunde ist absehbar, was geschehen wird: Das Ausweiten der Geldmenge zur Bezahlung offener Rechnungen wird als die Politik des vergleichbar kleinsten Übels angesehen. Zu den Kosten der Kapitalaufzehrung kommen die der Inflationierung hinzu. Es ist daher nicht überraschend, dass die EZB begonnen hat, über die Ausgabe von „Hubschrauber-Geld“ – als von zinslosen Geldgeschenken – laut nachzudenken.
Hubschrauber-Euro können ausgegeben werden, ohne dass dafür der Bankensektor Kredite vergeben muss – was er in einem Null- und Negativzinsumfeld aus betriebswirtschaftlichen Gründen auch gar nicht mehr kann. Mit Hubschrauber-Euro, flankiert von Null- und Negativzinsen, ist der Geldsozialismus – wie es der Publizist Roland Baader (1940 – 2012) treffend bezeichnet hat – quasi perfekt.
Die Geldproduktion ist dann voll verstaatlicht. Neue Euros werden von der EZB nach Gutdünken an Bedürftige und Erwählte ausgeteilt. Die Marktwirtschaft wird zur gelenkten Wirtschaft, zur Zentralbankplanwirtschaft. Wohin derartige semi-verhüllte sozialistische Experimente führen, lässt sich schon heute absehen: zu wirtschaftlichem Nieder-gang und politischem und sozialem Chaos.
Damit es nicht so weit kommt, muss man sich von der Null- und Negativzinspolitik verabschieden – etwa dadurch, dass die EZB erklärt, das Zinstief sei endgültig erreicht und in Aussicht stellt, die Zinsen langsam wieder auf normale Höhe ansteigen zu lassen und gleichzeitig die Anleihekäufe auf den Märkten zurückzuführen.
Das wäre zweifelsohne ein schmerzlicher Prozess für die Verschuldeten und alle sonstigen Schuldgeldprofiteure. Doch ohne eine Korrektur des eingeschlagenen Irrweges wird man die Hoffnungen auf ein friedvolles und prosperierendes Europa wohl endgültig verspielen.
Thorsten Polleit
Chefvolkswirt der Degussa Goldhandel Gmbh
thorsten.polleit@degussa-goldhandel.de
Erschienen am 22. April 2016 in der WirtschaftsWoche Online.